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Gletscherflöhe, Kelten und Seeigel – Universalgelehrter Édouard Desor (1811–1882)

Vor über 200 Jahren wurde in Friedrichsdorf ein Universalgelehrter geboren, wie ihn nur das 19. Jahrhundert hervorbringen konnte: Édouard Desor (1811–1882).

Seine Forschungen gaben Geologie, Paläontologie und Prähistorie bis heute gültige Impulse. Grundlegend befasste er sich mit der Entstehung von Gebirgen und Gletschern. 

 

Studien führten ihn bis nach Nordafrika und in die USA, wo ein Berg und ein See seinen Namen tragen; ebenso eine Seeigel- und eine Gletscherflohart. 

In der Schweiz, wo der liberale Desor auch politisch aktiv war, eröffneten seine Studien zu Pfahlbauten und Kelten der Forschung neue Wege.

Da er nur in jungen Jahren in Friedrichsdorf lebte, ist fast vergessen, dass er zeitlebens Kontakt mit seiner Heimatstadt hielt und Sozialeinrichtungen mit namhaften Beträgen unterstützte.

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Hier gibt es die lange Version des Friedrichsdorfer Universalgelehrten Édouard Desor

Geboren wurde Édouard Desor am 13. Februar 1811 als Sohn des Fabrikanten Jean Desor (1786–1813) und seiner Frau Christine Albertine, geb. Foucar, in der Hauptstraße 84 (heute Salusklinik). Nach dem frühen Tod des Vaters, Nachkomme einer von der Rhône-Mündung stammenden Hugenottenfamilie, erzog die junge Witwe die beiden Söhne Édouard und Frédéric. Sie heiratete 1816 den Witwer Jacques Rousselet (gest. 1825), der ebenfalls zwei Kinder in die Ehe mitbrachte. Doch die Verbindung wurde zum finanziellen Desaster. Dennoch: Das Erbe des Großvaters, ein Flanellfabrikant, ermöglichte Édouard nicht nur den Besuch des Gymnasiums in Hanau, sondern sicherte ihm auch das Jurastudium an der Landesuniversität Gießen und Heidelberg. Damit war er der erste Friedrichsdorfer, dem ein Studium vergönnt war.

Schon früh sympathisierte Desor mit liberalen und demokratischen Ideen, die damals noch als revolutionär galten. Entsprechend war die Reaktion der Obrigkeit: Als politisch Aktiver und Teilnehmer am Hambacher Freiheitsfest zu Pfingsten 1832 musste er die Heimat verlassen, um weiteren Restriktionen zu entgehen. Nach einer Zwischenstation in Paris, wo er von Privatstunden lebte, zog es ihn in die Schweiz. Dort arbeitete er schließlich als Sekretär von Dr. Louis Agassiz, einem renommierten Naturforscher.

Entdeckung der Gletscherflohart Desoria glacialis

Intensiv beteiligte sich Desor an dessen Untersuchungen zur Geologie und Gletscherkunde. Gemeinsam mit James David Forbes bestiegen sie 1841 als dritte Expedition das Bergmassiv der Jungfrau. Damit gehörte Desor zu den ersten, die den Viertausender erklommen. Auf dem Gornergletscher entdeckte er dann auch eine Gletscherflohart, die dank Alkohol als Frostschutzmittel im Eis überlebt. Ihm zu Ehren erhielt das Insekt den Namen Desoria glacialis.

Weitere Forschungsreisen führten den Friedrichsdorfer nach Skandinavien, wo er Findlinge untersuchte, deren isolierte Lage, wie Desor erkannte, Hinweise auf das Vordringen eiszeitlicher Gletscher gab. Außerdem schlug er 1847 zur erdgeschichtlichen Datierung die Dan-Stufe (Danium) vor. Mit der lateinischen Bezeichnung für Dänemark wird heute die älteste Periode des Tertiärzeitalters erfasst (65 bis 60 Millionen Jahre).

Noch im selben Jahr ging Desor mit Agassiz in die USA. Bald jedoch entzweiten sich die beiden Wissenschaftler. Agassiz, der die Evolutionslehre Darwins negierte, verteidigte die Sklaverei. Ein Standpunkt, der nicht mit dem liberalen Geist Desors vereinbar war. Bald darauf bekam er eine Anstellung in der Coast Survey und nahm an der geologischen Aufnahme der Mineraldistrikte am Oberen See und des Staates Pennsylvania teil. Als Anerkennung für seine Pionierarbeit in der damals noch unwirtlichen Gegend erhielten ein See (Lake Desor) und ein Berg (Mount Desor) den Namen des Friedrichsdorfers.

Rückkehr nach Neunburg (Neuchâtel)

Auf Bitten seines Bruders Frédéric, der sich als Arzt in der Schweiz niedergelassen und eine wohlhabende Witwe geheiratet hatte, kehrte Desor 1852 nach Neuenburg (Neuchâtel) zurück. Doch wenige Jahre später (1858) starben seine Schwägerin und sein Bruder, wonach Édouard das gesamte Vermögen erbte. Nun konnte er sich das Leben eines Privatgelehrten leisten. In Neuchâtel hatte man ihn bereits mit naturwissenschaftlichen Vorträgen betraut, so dass er bald an der Neugründung der Universität Neuenburg (1866) mitwirkte und bis 1868 als Professor für Geologie lehrte.

Im Winter 1863/64 unternahm Desor mit Arnold Escher von der Linth eine wissenschaftliche Reise nach Algerien und in die Sahara, um das Zurückgehen der alpinen Gletscher zu untersuchen. Die Forscher glaubten, heiße Wüstenwinde hätten zum Abschmelzen beigetragen. Einer der wenigen Irrtümer Desors, der sonst wichtige und richtige Grundlagen für die Glaziologie schuf, seit er als einer der ersten um 1840 mittels Tiefbohrer die Temperatur von vergletschertem Eis maß.

Erfolgreich war Desor auch als Archäologe und Prähistoriker. Nach der Sahara-Exkursion war er in Neuchâtel an der Bergung keltischer Funde aus La Tène beteiligt, die dann einem Abschnitt der Eisenzeit ihren Namen gaben. Auf Vorschlag Desors wurde später diese Periode in eine ältere Hallstatt- und eine jüngere La-Tène-Zeit unterteilt. Außerdem war der Universalgelehrte an der Entdeckung bronzezeitlicher Pfahlbauten beteiligt, die dem damals aufkeimenden Schweizer Nationalgefühl entgegenkam.

Desor stand mit seinen Kollegen in regem schriftlichen und persönlichen Austausch. Gerne lud er Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen in sein Landgut Combe Varin, darunter den Chemiker Justus Liebig, mit dem er auch eine lebendige, dann publizierte Korrespondenz pflegte. Noch heute bezeugt die „Allee der Gelehrten“, ein auf Bäumen geschriebenes „Gästebuch“ in dem unter Denkmalschutz stehenden Park des Neuenburger Landguts, welch bedeutende Persönlichkeiten von dem als umgänglich und freundlich beschriebenen Desor empfangen wurden.

Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit fand Desor noch Zeit für die Politik. Nachdem er 1859 die Schweizer Staatsbürgschaft angenommen hatte, wählte man ihn im Wahlkreis der Stadt Neuenburg in das Kantonatsparlament, später in das eidgenössische Parlament. 1873 war er sogar Nationalratspräsident.

Desors Verbundenheit mit Friedrichsdorf

Wenngleich der Naturforscher Desor seinen Lebensmittelpunkt in der Schweiz gefunden hatte, so blieb er seiner Heimat Friedrichsdorf verbunden. Er stand nicht nur in stetem Briefwechsel mit dem Internatsleiter Louis Frédéric Garnier und seiner Cousine Charlotte Desor, die damals im Haus gegenüber der Kirche wohnte, er zeigte sich auch generös bei der Unterstützung verschiedener Einrichtungen. Mit seinem Bruder stiftete Desor die erste Bücherei der Stadt und half Marie Blanc bei Gründung der Kleinkinderschule (heute Evangelischer Kindergarten). Er selbst blieb unverheiratet und kinderlos.

Als Desor wegen einer Nierenerkrankung den Winter in Südfrankreich verbrachte, versammelte er auch dort einen gelehrten Freundeskreis und befasste sich mit dem Urmenschenfund von Nizza. Hier starb er schließlich am 23. Februar 1882. Sein Vermögen floss der Stadt Neuchâtel zu, doch auch sein Geburtsort wurde nicht vergessen. Für den Kauf eines Hauses erhielt die Kleinkinderschulstiftung 10 000 Mark. Zudem verfügte Desor die Überführung seiner Bibliothek nach Friedrichsdorf. Zum Nachlass gehörten außerdem Ölgemälde, darunter Porträts der Brüder Desor.